Joggen um Mitternacht

Verabschiedung Heidi Hanselmann

Text: Corinne Riedener, Journalistin | Foto: Urs Bucher/Tagblatt

Interview Heidi Hanselmann, RegierungsrŠtin, Gesundheitsdirektorin © Urs Bucher/TAGBLATT

Sonntagabend, Heidi Hanselmann ist im Büro. An sich keine Überraschung. Wer ein schwieriges Departement führt und dossiersicher sein will, arbeitet auch viel. Doch heute ist ein besonderer Tag: ihr allerletzter als Regierungsrätin. Nach 16 Jahren als Gesundheitschefin tritt sie Ende Mai zurück. Heidi Hanselmann ist die Dienstälteste der drei abtretenden Regierungsmitglieder und war insgesamt dreimal Regierungsratspräsidentin. Nun räumt sie ihr Büro, packt Ordner und Akten, beantwortet letzte Mails, hängt ihre geliebten Bergbilder ab. Um Mitternacht muss sie den Schlüssel abgeben. «Ich habe unterschätzt, wie viel da zusammengekommen ist in all den Jahren», sagt sie lachend und bietet Pralinen und Kaffee an. Sie hat immer ein bisschen Schokolade irgendwo parat.

Heidi Hanselmanns Wahl in die St.Galler Regierung 2004 kam überraschend. Sie rechnete höchstens mit einem Achtungserfolg. Doch sie eroberte mit der SP den zweiten Sitz in der Regierung zurück. «Im ersten Moment konnte ich es kaum fassen, war voller Ehrfurcht», erinnert sie sich. «Dieses Amt ist ein Privileg, bringt aber auch enorme Verantwortung mit sich. Man kann Weichen stellen, weitreichende Entscheidungen treffen. Aber genau das liegt mir – gerade im Gesundheitswesen stand und steht viel an. Ich wollte das Gesundheitswesen im Sinne des Service public vorantreiben: mit den Menschen und für die Menschen.»

Seither konnte Heidi Hanselmann vieles bewegen in der Gesundheitspolitik, auch auf nationaler Ebene. 2006 nahm sie Einsitz in die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), ab 2016 war sie deren Vizepräsidentin, 2019 übernahm sie das Präsidium. Zu ihren grössten politischen Erfolgen im Kanton zählen die Spitalplanung über fünf Kantone hinweg, was einmalig ist in der Schweiz. Dann die Einführung des Joint-Medical-Masters, das Brustkrebs-Screening als erster Kanton in der Deutschschweiz, das Mutter-Kind-Zentrum mit dem Neubau des Kinderspitals, die Erarbeitung und Umsetzung des Geriatriekonzepts, die gesetzliche Verankerung der Palliativpflege und die Schliessung gravierender Behandlungslücken im psychiatrischen Bereich. Die Liste ist bei Weitem nicht vollständig.

Heidi Hanselmann hat das Kollegialitätsprinzip stets hochgehalten, auch dann, wenn sie sich Entscheide der Regierung manchmal anders gewünscht hätte. «Das gehört zum Amt», sagt sie. «Streiten kann man vor dem Entscheid. Aber wenn er gefallen ist, muss man geschlossen dazu stehen – das ist selbstverständlich.» Wer Hanselmanns Wirken auf die Spitaldiskussion der letzten drei Jahre reduziert, wird ihrem Einsatz nicht gerecht. Im Gegenteil: Parlament und Bevölkerung standen grossmehrheitlich hinter ihrer Spitalpolitik «für alle». Die St.Galler Stimmberechtigten stimmten 2014 mit einer überwältigenden Mehrheit für den Neu- und Umbau von fünf der neun Spitäler und des Ostschweizer Kinderspitals für 810 Millionen Franken. Das sind keine Beiträge à fonds perdu wie sie beispielsweise für die Geriatrische Klinik gesprochen wurden, sondern Kredite, die zurückbezahlt werden müssen.

Aufgefallen sind auch die Themenschwerpunkte, die Heidi Hanselmann in ihren drei Präsidialjahren gesetzt hat: Bewegung und Begegnung, Nachtarbeit und psychische Gesundheit. Wichtig war für sie immer, «nah bei den Leuten zu sein». Getreu diesem Motto besuchte sie Jugendverbände und Sportvereine, wurde in der Pfadi auf den Namen «Montana» getauft – passend zu ihrer Leidenschaft fürs Bergsteigen –, hat mehrere Nächte auf dem Rangierbahnhof, in der Bäckerei oder mit dem Putztrupp im Schoren-Autobahntunnel verbracht. Und sie fragte im vergangenen Jahr unzählige Menschen im Kanton: «Wie geht’s dir?»

Nicht zu vergessen der «Endspurt»: Als St.Galler Gesundheitschefin und Präsidentin der GDK kämpfte Heidi Hanselmann bereits ab Februar an vorderster Front der Coronakrise, war ständig in Bereitschaft und drehte ihre Joggingrunde deshalb öfters erst bei Mondschein. Mit der Bewältigung der Krise ist sie zufrieden, auch dank der Mithilfe der Bevölkerung. «Es war für alle eine völlig neue Situation. Zu Beginn der Krise hatten wir zum Teil über 1200 besorgte Anrufe pro Tag», sagt sie. «Ich bin stolz auf die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons. Sie haben die Präventionsmassnahmen ernstgenommen und konsequent umgesetzt und haben uns als Regierung das nötige Vertrauen entgegengebracht – sonst wären wir weniger glimpflich davongekommen.»

Heidi Hanselmann ist nicht zuletzt ein grosses Vorbild für viele Frauen. Das war nicht immer einfach. Heidi Hanselmann hat vor dem Einstieg in die Politik 1995 ebenfalls gezögert, wollte dann aber nicht «als feige Nuss dastehen», wie sie lachend sagt. «Ich habe immer für Frauen in Führungspositionen gekämpft.» Es ist ihr denn auch gelungen, ihr Departement und die Kaderpositionen mit Frauen zu besetzen und auch Frauen in Verwaltungs- und Stiftungsräte zu bringen. «Ich bin froh, dass ich diese Chance gepackt habe, und ich wünsche mir, dass die Frauen weiter mutig ihren Weg gehen – und sich vermehrt auch für politische Ämter zur Wahl stellen.»