Sechs Stufen hinauf, dann zwei Schritte bis zur Eingangstür. Es folgen zwei weitere Schritte, fünf Stufen hinunter, dann eine Vierteldrehung nach rechts. «Ich zähle regelmässig, damit ich nicht jedes Mal so genau tasten muss und an Tempo verliere», sagt Gerd Bingemann. Der 61-Jährige ist aufgrund einer Netzhauterkrankung nach langjähriger Sehbehinderung seit fast 15 Jahren blind – und trotzdem so oft wie möglich selbstständig mit seinem weissen Stock unterwegs.
Ringen um Selbständigkeit
Ein solcher Weg ist jener von seinem Zuhause in Wil bis zum Bahnhof. Die rund 700 Meter lange Strecke hat Bingemann komplett im Kopf. «Nach der Aussentreppe kommt ein Weg, der mit Platten verlegt ist», erzählt er. «Sobald es wegen meines Stockes nicht mehr ‹rarp rarp›, sondern ‹rrrr› macht, weiss ich, dass ich auf dem Asphalt und nicht mehr auf den Platten bin.» Rund 20 solcher Merkmale hat er sich für den zehnminütigen Fussmarsch eingeprägt. «Gibt es keine kurzfristigen Baustellen oder Zulieferfahrzeuge, die im Weg stehen, dann komme ich gut ohne fremde Hilfe zum Bahnhof.»
Selbstständigkeit ist für Gerd Bingemann wichtig. Dabei kann er sich auf seinen ausgeprägten Gehör-und Tastsinn und sein trainiertes Erinnerungsvermögen verlassen. Dennoch ist er immer wieder mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Seit Jahren setzt er sich deshalb für die Rechte sehbehinderter Menschen und den Abbau von Hürden im Alltag ein. Während 33 Jahren arbeitete er beim Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND mit Sitz in St.Gallen. Bingemann war für die Hilfsmittel zuständig und kam als Interessenvertreter zwangsläufig auch in Berührung mit der öffentlichen Verwaltung. In dieser Funktion war er unter anderem dafür verantwortlich, dass die Treppenkanten auf den Bahnhöfen besser markiert und taktil-visuelle Leitliniensysteme verlegt wurden. Seit gut eineinhalb Jahren ist er wegen einer zusätzlichen Hörbehinderung frühpensioniert. Für den Juristen und passionierten Musiker aber kein Grund, sich zur Ruhe zu setzen. «Es wird vielerorts schon vieles richtig gemacht. Aber es gibt immer noch einiges zu tun.» Im öffentlichen Raum sind es aktuell die Elektroautos, E-Bikes und E-Trottinette, die ihm Sorgen machen. «Sie reduzieren zwar den Verkehrslärm, für uns können sie jedoch gefährlich sein», sagt er. Der Grund: Sie sind praktisch geräuschlos und ungewohnt schnell. «Der Verkehrslärm ist für uns eine wichtige Orientierungshilfe, wenn wir beispielsweise auf die andere Strassenseite wollen.» Bingemann plädiert dafür, die Motorenersatzgeräusche in den Elektrofahrzeugen noch konsequenter umzusetzen.
Lieber Ampeln als Kreisel
Nebst dem Verkehrslärm sind deutlich abgegrenzte Trottoirkanten, Leitsysteme am Boden bei den Bahnhöfen, Aufmerksamkeitsfelder mit weissen Reliefstreifen an den Bushaltestellen sowie akustische Signale und Vibrationen an den Ampeln wichtige Hilfsmittel für blinde Menschen, um sich im öffentlichen Raum zurechtzufinden.
Allerdings dürfte an mancher Ampel der Ton, der erklingt, wenn diese auf Grün wechselt, noch etwas lauter sein und länger anhalten. «Wenn es rund herum viel Lärm hat, ist es für uns manchmal schwierig, das Signal wahrzunehmen und dem richtigen Zebrastreifen zuzuordnen», sagt Bingemann. Dennoch ist er froh, dass es heute noch so viele Verkehrsampeln gibt. Die Kreisel hingegen bereiten ihm Mühe: «Man hört ein konstantes Brummen und kann sich nicht am stoppenden Quer-oder anfahrenden Parallelverkehr orientieren.»
Gerd Bingemann nutzt oft den öffentlichen Verkehr. «Bus und Zug sind für uns Sehbehinderte sehr wichtig», sagt er. «Wir sind dadurch mobiler und selbstständiger – und müssen nicht alle Wege auswendig und mit abgezählten Schritten im Kopf kennen.» Dass sich vieles im Alltag, auch bei den öffentlichen Verwaltungen, zunehmend in den virtuellen Raum verlagert, findet Gerd Bingemann einerseits positiv. «Es löst unser Mobilitätsproblem.» Andererseits seien nicht alle Verwaltungen und Institutionen bezüglich Blindenfreundlichkeit ihrer Webseite auf einem guten Level, sagt er. Da gebe es grosse Unterschiede. Wichtig ist für ihn, dass Verantwortliche wissen, wie sehbehinderte Menschen einen Bildschirminhalt erfassen und sich virtuell informieren. «Damit ein elektronischer Zugang zu Daten und Dokumenten mit so wenig Hürden wie möglich entsteht, müssen sehbehinderte Menschen und ihre Fachstellen von Anfang an in die Konzeption und Umsetzung miteinbezogen werden.»
Für uns können Elektrofahrzeuge gefährlich sein.