Die Theater-Stadt
Die Beziehung des Kantons und der Stadt St.Gallen zum Theater ist eine besondere. Als erste Schweizer Stadt überhaupt hatte St.Gallen ab 1801 ein eigenes Theatergebäude. Der Betrieb des «Theaters in der fürstäbtlichen Remise» (heute Kantonspolizei) konnte später unter dem ersten Landammann des Kantons St. Gallen, Karl Müller-Friedberg, etabliert werden. 1855 schliesslich kaufte die Aktionärsgesellschaft des Theaters das alte Zeughaus am Bohl und plante dort einen Neubau. Architekt Johann Christoph Kunkler wurde mit der Planung beauftragt und das Haus erlebte 1857 eine festliche Einweihung.
Der elegant proportionierte Bau im Stil des Klassizismus und der Neurenaissance wies eine Guckkastenbühne und einen hufeisenförmigen Zuschauerraum mit Balkonen auf. Nach einem Jahrhundert Betrieb erhielt die Theater AG um 1960 ein kaum auszuschlagendes Angebot und verkaufte die Liegenschaft am Bohl an eine grosse Warenhauskette, welche dem schutzwürdigen Kulturobjekt den baulichen Todesstoss versetzte. Am neuen Standort im Kulturviertel der östlichen Vorstadt wurde eine dritte Epoche des Theaters eröffnet. Die vielversprechende Lage in direkter Nachbarschaft zur Tonhalle, zu den grossen Museen und zum Stadtpark bildete 1961 die Ausgangslage für einen hochstehenden Architekturwettbewerb. Als Sieger des Wettbewerbs ging das Büro Cramer Jaray Paillard (CJP) aus Zürich hervor.

Die Architekturwelt der Schweiz war erstaunt: Nicht in Genf, Basel oder Zürich entstand der erste moderne, plastische Theaterbau der Schweiz, sondern in St.Gallen. Und das fast gleichzeitig mit einem weiteren herausragenden Bau der Moderne: dem Campus der Hochschule St.Gallen von den Architekten Förderer-Otto-Zwimpfer. Die Ostschweizer Kantonshauptstadt trat damit definitiv aus dem provinziellen Schatten und wurde zu einem Ort erstklassiger Objekte der Sichtbeton-Ästhetik, genannt «Brutalismus» (vom französischen Begriff «beton brut»).
Dieses Bedürfnis, die Funktion in eine skulpturale Form und komplexe, dreidimensionae Räume zu giessen.
Der Brutalismus
Was war denn so neu an dieser Architektur? Ihr Näherrücken an die abstrakte, plastische Kunst? Die Faszination des Baustoffes Beton und dessen neuartiger Umgang mit der Statik? Die Freude oder sogar der Zwang, jeder Funktion eine erkennbare Form zu verleihen? Wahrscheinlich von allem etwas. Tonangebend für den Entwurf des Theaters St. Gallen war jedenfalls nicht das traditionelle Verständnis einer repräsentativen äusseren Erscheinung mit den klassischen architektonischen Mitteln und Instrumentarien von Vitruv oder Palladio. Vielmehr das Bedürfnis, die Funktion in eine skulpturale Form und komplexe, dreidimensionae Räume zu giessen. Das ist neu und an diesem Bau wahrhaft spektakulär. Kommst du mit auf einen kurzen Rundgang?
Promenade architecturale
Wir stehen vor einem plastischen Gebilde, welches Erinnerungen an die Steinbock-Felsen im Wildpark Peter und Paul weckt. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir ganz unten an diesem hochaufragenden Gebirge einen schlitzartigen Zugang, durch den wir uns durchzwängen und zügig den Mantel in der Garderobe abgeben. Jetzt kommen die Treppen: Asymmetrisch und in schrägen Winkeln. Eine spiralförmig ansteigende Promenade, welche uns erst einmal einen spektakulären Blick durch eine verglaste Aussenwand in den Stadtpark frei gibt.

Weiter mit stufenartigen Modellierungen von Böden und Decken. Und überall eröffnen sich neue Einblicke: Auf abzweigende Treppen, darunterliegende Foyerbereiche und ins warme, schatullenartige Innere des Zuschauerraumes. Je weiter wir aufsteigen, umso kurioser das schräge Treppensteigen. Dann ein grosser Moment: Wir treten ein in den Saal. Tief unten die Bühne. Noch eine traditionelle Guckkastenbühne. Der Zuschauerraum ist offen und von beeindruckender Weite. Nur eine Andeutung von Balkonen und Logen, dafür eine fein abgestufte, topografische Landschaft, welche sich wie eine Arena um die Bühne und den Orchestergraben schmiegt.
«Konsequenz ist eine wesentliche Qualität von Architektur»
Das Theatergebäude ist eine in Beton gegossene Materialisierung dieses Mottos von Claude Paillard. Die virtuose Umsetzung des Grundthemas vom Sechseck (selbst bei den Treppen) bis ins letzte Detail und der asketische, sorgfältige Einsatz der rohbelassenenen Baumaterialien (Beton, Holz, Glas, Textil) sind beeindruckend.

Weitermodellieren an einer Skulptur
Die unbestrittene Qualität und der überragende kulturelle Zeugniswert machen aus dem Theatergebäude ein schützenswertes Kulturobjekt. Es soll als wichtiger Zeuge einer architektonischen und kulturhistorischen Epoche erhalten bleiben.
Demgegenüber erhielt die später von denselben Architekten geplante Erweiterung des Opernhauses in Zürich keine vergleichbare Akzeptanz. Noch heute spricht die Grossstadt abschätzig von «Fleischkäse» und der Ruf nach dem Abbruch wird laut. St. Gallen dagegen hat sich für eine umfassende Renovation seines Theaters entschlossen. Die damit verbundenen Erweiterungen mit den Gestaltungselementen Paillards und mit subtilen Nahtstellen an der fein austarierten Skulptur sind gelungen. Der Bau wird im Herbst dieses Jahres wieder seinem Betrieb übergeben. Noch offen ist, wie der Platz im Detail gestaltet und genutzt wird. Es gibt vielversprechende Ideen.
Epilog
Liebe Leserinnen und Leser, mit diesem Beitrag verabschiede ich mich als Autor der Rubrik «Einblicke». Es hat mir immer grosse Freude bereitet, Ihnen mit diesen kurzen Spots das reiche bauliche Erbe des Kantons St.Gallen etwas näher zu bringen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Michael Niedermann war bis Juni 2022 kantonaler Denkmalpfleger