Das «Neue Bauen» in St.Gallen

Text: Michael Niedermann, dipl. Architekt FH SWB, Kantonaler Denkmalpfleger

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Flachdächer, Rundbalkone, neue Materialien wie Stahl, Glas und Beton: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fasste das «Neue Bauen» auch im Kanton St. Gallen Fuss – wenn auch zaghaft. Einige markante Bauten in der Stadt St.Gallen bezeugen den Wandel in Architektur und Städtebau.

Eines der herausragenden Beispiele des «Neuen Bauens» im Kanton ist der «Linsebühl-Bau» am Rande der St.Galler Altstadt. Er wurde 1933 erstellt, also mitten in der Wirtschaftskrise. Das ist durchaus typisch: Die Weltwirtschaftskrise wurde von einem regelrechten Bauboom begleitet. Der bauliche Wandel ging aber abgesehen von wenigen Beispielen wie dem «Linsebühl-Bau» – in den schweizerischen Metropolen weit rascher und heftiger vonstatten als in der Ostschweiz. Der Grund: Die Ostschweiz stand damals noch ganz in der Schockstarre nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie.

Geschäftshaus Union, Spisertor 1950–1951, E. Hänni, E. Brantschen, St.Gallen, Foto: D. Studer

Anstelle einer Vielzahl neuer markanter Objekte verbreitete sich das «Neue Bauen» hierzulande auf der Detailebene. Während Jahrzehnten wurden einzelne Elemente der Moderne mit dem traditionellen Heimatstil vermengt. Schmuckbefreite, schnörkellose, moderne Baukörper mit Bandfenstern und Rundbalkonen erhielten ein traditionelles Walmdach.

Schwer tat man sich auch mit der radikalen Forderung des Funktionalismus «form follows function»: Dieses nüchterne und strenge Gestaltungsprinzip stand im scharfen Gegensatz zu den Vorstellungen, wie ein repräsentatives, schmuckes Eigenheim als bürgerliches Statussymbol auszusehen hat. Bei den öffentlichen Bauten war die Toleranz gegenüber dem «Neuen Bauen» indes grösser – erst recht als die Meinung aufkam, moderne, also streng funktionale und schlichte Bauten seien auch kostengünstiger.

Geschichtlich betrachtet hat das «Neue Bauen» seinen Ursprung in der Industrialisierung um 1830. Richtig zum Durchbruch gelangte es aber erst 80 Jahre später. Es war ein Programm der Auflehnung: Widerstand gegen eine Zeit der nostalgischen Retrospektive und Aufbruch in eine neue Zeit der Funktionalität, der Ehrlichkeit und der Freude am technischen Fortschritt.

Wohn- und Geschäftshaus «Säntis» Lämmlisbrunnenstrasse 1932, M. Hauser Architekt, Zürich & St.Gallen, Foto: Tagblatt
Universität St.Gallen, Dufourstrasse 1960–1963, W. M. Förderer, Rolf Otto, Hans Zwimpfer, Basel, Foto: ETH Archiv Zürich

Die Interpretation dieses Fortschritts war aber wenig einheitlich. Ein Beispiel ist das moderne Flachdach. Als Abschluss eines Gebäudes nach oben kann es als simpler Deckel gegen die Witterungseinflüsse betrachtet werden. Die konzeptionelle Idee der Moderne ist aber weit komplexer. Die Protagonisten des «Neuen Bauens», allen voran Le Corbusier, sahen im Flachdach und dessen Nutzung eine Kompensation der bebauten Grundfläche. Das Flachdach wurde also «erfunden», weil man diese Fläche nutzen kann.

Erst nach 1960 und bis heute verbreitete sich das Flachdach in der Ostschweiz – dafür geradezu inflationär. Allerdings ging die Grundidee verloren. Massgebend dafür, ein Flachdach zu bauen, waren und sind (vermeintlich) ökonomische Vorteile. Das Beispiel «Flachdach» illustriert somit das Schicksal des «Neue Bauens» in der Ostschweiz und in St.Gallen: Im radikalen Sinn konnte es kaum Fuss fassen. Entsprechend gering – aber dafür umso interessanter – sind die guten Beispiele.