07:45 Uhr: Wer das Wort «Archiv» hört, denkt an einen dunklen, verstaubten Keller. Dabei hat Martin Jägers Büro grosse Fenster und viel Sonnenlicht. «Viele stellen sich vor, dass ich morgens in die Gruft steige und erst abends wieder das Tageslicht sehe», sagt der Leiter Überlieferungsbildung des Staatsarchivs. Weit gefehlt: Statt dem Abstieg in die Gruft stellt Martin Jäger als Erstes den Computer ein, liest seine Mails und plant seinen Tag.
08:15 Uhr: Das Staatsarchiv am Klosterplatz öffnet seine Tore. Martin Jäger hat selbst nur selten Kundenkontakt. Heute verbringt er den Vormittag in seinem Büro und verleiht einigen Bewertungsmodellen den letzten Schliff. Diese Dokumente erstellen er und seine Mitarbeitenden für Ämter und Dienststellen der Verwaltung, um festzulegen, was dereinst ins Archiv wandert. Die Mitarbeitenden der Verwaltung können so selbst ihre erstellten Unterlagen bewerten und übergeben nur das «archivwürdige» Material dem Staatsarchiv: Akten, Register und Bücher, aber auch Fotos, Karten und Pläne, alles zunehmend auch in digitaler Form.
Martin Jäger arbeitet seit rund 20 Jahren im Staatsarchiv und erinnert sich noch gut an seine Anfänge, als die Ämter dem Archiv alle erstellten Unterlagen ablieferten. Diese stapelten sich dann in Zwischenarchiven zu hohen Türmen, bis die Archivarinnen und Archivare mit der Bewertung beginnen konnten. Grosser Aufwand für kleinen Ertrag: Nur etwa 5 bis 10 Prozent aller Unterlagen werden im Durchschnitt für die Nachwelt aufbereitet.
Die Bewertung gilt als Königsdisziplin unter den archivischen Aufgaben. Sie funktioniert aber nur vernünftig, wenn der Archivar ein Gesamtbild der Unterlagen und ihrer Entstehungshintergründe erhält. Martin Jäger muss deshalb zuerst verstehen, welche Aufgaben und Zuständigkeiten, Abläufe und Querbeziehungen in einem Amt wichtig sind, bevor er ein Bewertungsmodell erstellen kann. «Der Kontakt mit dem Amt ist der spannendste Teil an der Bewertungsarbeit », sagt er. «Ich tauche jedes Mal in einen neuen Mikrokosmos ein.» Der Archivar verwendet für die Bewertung nicht nur sachliche Informationen. Wenn er ein Amt besucht, nimmt er auch die Atmosphäre auf: Welche Bilder schmücken die Wände? Sind die Türen offen oder geschlossen? Arbeiten die Mitarbeitenden eher mit Papier oder dem Computer?
09:45: Die erste Pause des Tages steht an. Die Mitarbeitenden des Staatsarchivs schätzen die gemeinsame Zeit. Auch wenn sie sich zurzeit Corona-bedingt nur gestaffelt vor der Kaffeemaschine treffen.
10:00: Das Hauptgeschäft des Staatsarchivs ist die Sicherung, Aufbereitung, Aufbewahrung und Erschliessung der archivwürdigen Unterlagen aller Departemente, der Staatskanzlei, der Gerichte oder staatsnahen Institutionen wie zum Beispiel von Spitälern oder der Universität St.Gallen. Ergänzend übernehmen die Archivarinnen und Archivare auch Unterlagen von privaten oder juristischen Personen, sofern diese als geeignet erscheinen, um die Geschichte des Kantons zu vervollständigen. Im Gegenzug steht das «Gedächtnis des Kantons» unter Beachtung bestimmter Spielregeln allen Interessierten und Berechtigten für Anfragen oder eigene Recherchen offen.
Schweizweit ist das Staatsarchiv St. Gallen eines jener Archive, die am strengsten reduzieren. Trotzdem sind gegen zehn Laufkilometer Akten in den Kurbelschränken feinsäuberlich einsortiert – jedes Jahr kommen 100 bis 200 Meter hinzu. Jeder Meter ist so aufbereitet, dass die Nachwelt die Tätigkeit des Kantons zurückverfolgen kann und die damit zusammenhängenden Rechte des Staates und seiner Bürgerinnen und Bürger gewahrt werden. Martin Jäger verwendet gerne ein Zitat des deutschen Schriftstellers Rudolf Rolfs, um die Arbeit des Archivars zu beschreiben: «Geschichte: Die Zeit durch ein Sieb giessen, dessen Maschen unregelmässig sind.» Der studierte Historiker Martin Jäger stellt sich täglich der Herausforderung dieser «unregelmässigen Maschen», wenn er entscheidet, was archiviert wird und was im Altpapier landet. Denn wer weiss, was die Historikerinnen und Historiker von morgen interessiert?
12:15: Die einzige Regelmässigkeit in Martin Jägers Alltag sind die Arbeitszeiten, die er so gut als möglich einhält. Sein Mittagessen geniesst er manchmal in der Stadt, manchmal zu Hause mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern.
13:45: Wenn es der Zeitplan zulässt, legt Martin Jäger selber Hand an. Dass er in Akten eintaucht, ist durch seine Leitungsposition zwar seltener geworden. Ab und zu verbringt er aber einen Nachmittag mit klassischer Archivarbeit. Wenn aufgrund eines Bewertungsmodells nicht sicher ist, ob Unterlagen archivwürdig sind oder nicht, nehmen die Fachpersonen im Archiv in einer Nachbewertung jedes Dossier sorgfältig einzeln unter die Lupe. Im fensterlosen Raum im dritten Stock ist die Archivarbeit noch spür- und greifbar.
Martin Jäger nimmt einen Stapel zur Hand, entfernt Büroklammern, ordnet die Akten und beginnt mit der Bewertung. Es sei wichtig, dabei nicht in Subjektivität zu verfallen, sagt er: «Klar zögere ich eher, als wenn ich zu Hause den Küchenschrank ausräume, schliesslich handelt es sich bei den meisten Unterlagen um Unikate, die nicht beliebig in Kopien erhältlich sind.» Als Archivarin oder Archivar trage man somit eine grosse Verantwortung. Dennoch heisst das Motto «Mut zur Lücke». Jäger und Sammler seien eher weniger geeignet für die archivische Bewertungsarbeit, findet Martin Jäger, der ob der Ironie seines eigenen Namens schmunzeln muss.
17.30: Nach einem Nachmittag im Archiv geniesst es Martin Jäger, sich an der frischen Luft die Beine zu vertreten. Laufsport ist sein liebster Ausgleich zum Arbeitsalltag. An freien Tagen geht er zudem gerne in die Berge. Er hat im Nebenfach Geografie studiert und schätzt dank seinem Fachwissen die Natur umso mehr. Das von ihm angesprochene Klischee des blassen Archivars, der nur selten das Sonnenlicht sieht, trifft auf Martin Jäger definitiv nicht zu.