Die Stimme des Kantons

Sie hat über eine halbe Million Mal das Telefon für den Kanton St.Gallen abgenommen, nun ist Eva Stieger in Pension. Gehört und erlebt hat sie so manches.

Markus Wehrli, Kommunikation Staatskanzlei

Pfalzbrief 2023 02 Eva Stieger 0005

«Staatsverwaltung Kanton St.Gallen, mein Name ist Stieger.» – Diese Begrüssung haben viele, wirklich sehr viele Leute gehört, wenn sie die Hauptnummer der kantonalen Verwaltung gewählt haben. 22 Jahre zu einem
Pensum von durchschnittlich 65 Prozent und täglich rund 250 Anrufen: Das macht 770000 Anrufe, die Eva Stieger als Mitarbeiterin in der Telefonzentrale entgegengenommen hat – vorsichtig gerechnet. 

Zuhören können ist das A und O

Seit Mitte April ist Eva Stieger in Pension. Mehr als zwei Jahrzehnte Dienst in der Telefonzentrale der Verwaltung liegen hinter ihr. Was kommt ihr spontan in den Sinn, wenn sie an diese Zeit zurückdenkt? «Man muss zuhören können», sagt sie mit rauchiger und tiefer Stimme. Zwischen 250 und 300 Anrufe jeden Tag hat Eva Stieger entgegengenommen. «Wenn man so viele Anrufe hat, dann lernt man unweigerlich genau hinzuhören. Nur so findet man möglichst schnell heraus, was die Anrufenden wollen und mit wem man sie verbinden muss.»

Wer gut zuhören kann, hört das Hintergründige und Unterschwellige, was im Gesagten auch noch mitschwingt. Gelernt habe sie das vor allem von einer ehemaligen Mitarbeiterin, eine Frau, die von Geburt an blind war. Zehn Jahre haben sie und Eva Stieger das Büro geteilt. «Von ihr habe ich richtig zuhören gelernt.» Der Trick dabei? «Sich nicht von den Augen leiten lassen, lernen, die Augen in den Hintergrund zu stellen.»

250 Telefone jeden Tag, das bedeutet Dauerstress.

Eva Stieger hat langes, weit über die Schultern fallendes, leicht gewelltes und grau meliertes Haar. Die 63-Jährige hat viel erlebt und viel zu erzählen. Zweifache Mutter, die ihre beiden Kinder alleine grossgezogen hat, vierfache Grossmutter unterdessen, leidenschaftliche Pilzkundlerin und Gärtnerin, eher der Typ Naturmensch. 

Von der Swisscom zum Kanton

Ihre Lehre hat sie als technische Telefonistin bei der damaligen Kreistelefondirektion St.Gallen absolviert, sich später bei der Swisscom weitergebildet, schliesslich trat sie die Stelle beim Kanton an. «Ich konnte hier in der Verwaltung Teilzeit arbeiten. Das war wichtig für mich als Mutter, besonders als meine Kinder noch klein waren.» Die Schönste Seite ihres Berufs? «17 Uhr war jeweils Schluss, ich konnte den Schalter im Kopf auf delete stellen und den Speicher leeren. So hatte ich genügend Kraft und Energie für meine anderen Aufgaben.»

Eine 100-Prozent-Anstellung hätte sie wegen des Dauerstresses nicht ausgehalten. 250 Telefonate entgegennehmen pro Tag, das macht rund 30 Anrufe die Stunde, also alle zwei Minuten einer. «Ich habe am Morgen zuerst die Zeitungen durchgesehen, um auf dem Laufenden zu sein, welche Themen im Kanton gerade aktuell sind. Ich konnte mir so ausrechnen, was für Anrufe kommen würden, und gewann damit ein bisschen Zeit», sagt Eva Stieger. 

Ich kenne die Verwaltung auswendig

Die häufigsten Anrufe, aufgeteilt nach Departementen und Ämtern: Leute mit Steuerfragen, Leute, die einen Migrationshintergrund haben und ans richtige Amt weitergeleitet werden wollen, oft Anrufe, die das Amt für Wirtschaft betrafen. Die schnelle Vermittlung setzt Kenntnis voraus. «Ich kenne die Verwaltung in- und auswendig, ich kann die allermeisten Sachthemen einzelnen Auskunftspersonen zuordnen. Das lernt man in diesem Job.»

Es gab auch schwierige Situationen, erzählt Eva Stieger. «Wenn jemand wegen Steuerfragen anruft, dann ist
diese Person oft gereizt – wegen der Steuern, nicht wegen uns.» Solche Situationen haben kritisches Potenzial. «Es gibt Leute, die suchen dann regelrecht Streit», sagt Eva Stieger. Sie hat sich nur selten provozieren lassen. In ganz wenigen Fällen hat Eva Stieger die betreffende Person später nochmals angerufen und sich entschuldigt. 

Herr Sokolov geht der Atem aus

Die positiven Erfahrungen überwiegen bei Weitem. Sie habe so viele liebenswerte Menschen kennengelernt –Menschen, die sie nie zu Gesicht bekam, zu denen sie mit der Zeit aber doch eine Art Nähe entwickelte. Besonders nah gegangen ist ihr die Geschichte von Herrn Sokolov, ein Tscheche, der über 50 Jahre als Flüchtling in Österreich gelebt hat. Als er 93 war, hat Herr Sokolov auf der Kantonsverwaltung angerufen. Er habe unbedingt in die Schweiz einreisen wollen, um hier zu sterben, erzählt Eva Stieger. Herr Sokolov habe alle zwei Wochen angerufen, insgesamt sicher über 50 Mal. «Das Schicksal dieses 93-jährigen Mannes ist mir unter die Haut. Er wollte unbedingt hier sterben, hat es aber nicht geschafft. Und plötzlich kamen keine Anrufe mehr.»