Beat, wann ist dir zuletzt eine Entscheidung so richtig schwergefallen?
Beat Tinner: (überlegt) Das ist schon eine Weile her. Auch weil ich im Grundsatz der Meinung bin, dass man entscheiden muss. Ich kann mich nicht an einen konkreten Fall im beruflichen Umfeld erinnern, bei dem ich einen Entscheid hinausgezögert hätte. Privat bin ich womöglich zurückhaltender, aber in solchen Fällen animiert mich dann meine Frau, dass wir entscheiden.
Von aussen gewinnt man von dir den Eindruck, dass du jemand bist, der gerne entscheidet. Täuscht das?
Nein, der Eindruck ist sicher richtig. Ein Wirtschaftsführer hat mal gesagt: Es spielt keine Rolle, wenn ein Teil der Entscheide falsch ist. Das ist vielleicht plakativ, aber es trifft schon zu. Man kann dazu stehen, wenn ein Entscheid falsch war – und ihn korrigieren. Ich bin deshalb auch Fan von Pilotversuchen und von «Mut zur Lücke».
Kann man das lernen – oder wurde dir die Entscheidungsfreudigkeit in die Wiege gelegt?
Sowohl als auch. Ich bin immer überzeugter vom Ansatz, dass es in der Führung und im Umgang mit Menschen allgemein einen Teil gibt, den man lernen kann, und einen, der einem gegeben ist. Deshalb glaube ich nicht, dass man alles lernen kann.
Kopf oder Bauch – Verstand oder Intuition: Was
überwiegt bei deiner Entscheidungsfindung?
Ich versuche, Entscheide aufgrund von rationalen Überlegungen zu fällen. Am Schluss mache ich aber eine Art emotionale Neunerprobe.
Wie sieht die aus?
Ich frage mich: Stimmt das Gefühl? Und genauso wichtig: Kann ich das Ergebnis des Entscheids nach aussen vertreten?
Wie meinst du das?
Dass ich den Entscheid erklären kann – den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Medien. Wenn ich das nicht in einem oder zwei Sätzen auf Anhieb schaffe, dann ist es für mich ein problembehafteter Entscheid. Oder das Problem entsteht später, eben weil ich die Botschaften nicht einfach und verständlich übermitteln kann.
«Man kann dazu stehen, wenn ein Entscheid falsch war – und ihn korrigieren. Ich bin deshalb auch Fan von Pilotversuchen und von ‹Mut zur Lücke›.»
Niemand entscheidet immer alles richtig. Wie gehst du mit Fehlern anderer um?
Es ist immer einfach, andere zu kritisieren. Man muss es selbst besser machen. Mein Anspruch ist es, das, was ich entscheiden kann, alleine oder im Gremium, so gut wie möglich zu entscheiden.
Gremium ist ein gutes Stichwort. In einer Exekutive gehört Entscheiden zur Tagesordnung. Wie entstehen eigentlich Entscheide in der St. Galler Regierung – durch hart geführte Diskussionen oder Konsens?
Meine Wahrnehmung ist, dass die Regierung im Vergleich zu anderen Behörden wenig harte Entscheide fällen muss. Viel eher versuchen wir, im Rahmen einer Diskussion um Lösungen zu ringen. Selbstverständlich gibt es aber auch Momente, in denen man merkt: Die Argumente liegen auf dem Tisch, da kommen wir nicht mehr weiter.
Und dann?
Dann muss die Regierung die Gnade haben, zu entscheiden. Und dann gibt es einen Mehrheitsentscheid, den am Schluss alle Mitglieder der Regierung vertreten. Unabhängig davon, ob dieser Entscheid zu ihren Gunsten oder Ungunsten ausgefallen ist.
Eine Haltung vertreten, die du gar nicht hast: Fällt dir das schwer?
Ich habe über die Jahre gelernt, dass ich das ganz gut kann. Ich würde sogar sagen: Ich bin auf solche Situationen bezogen ein guter Schauspieler (lacht).
Oft ist in der Politik die Rede von guten Kompromissen. Welcher Weg führt am schnellsten dorthin?
Es braucht einen breit abgestützten Einbezug von verschiedenen Anspruchsgruppen und eine Auseinandersetzung mit anderen Argumenten. Aber auch hier wieder: Wenn die Argumente auf dem Tisch liegen, braucht es einen Entscheid.
Das Entlastungspaket zeigt: Manchmal fällt die Regierung auch unpopuläre Entscheide. Wie sehr fliesst der Gedanke an den Gegenwind, der da kommen wird, in die Entscheidungsfindung mit?
Die erwartete Reaktion von Anspruchsgruppen fliesst durchaus in die Diskussion ein. Man muss sich in die Rolle des Gegenübers hineinversetzen, das gehört gerade bei potenziell umstrittenen Geschäften zum politischen Handwerk dazu. Ich fände es aber falsch, wenn man Entscheide verwässern würde, nur um Reibungen aus dem Weg zu gehen. Dann werden sie im Vollzug nämlich kaum umsetzbar. Stichwort Vollzug…
Bitte.
Wir sind alle gefordert, in den Gesetzeserlassen auch darauf zu achten, dass das nachvollziehbar und auch umsetzbar ist. Für Bürgerinnen und Bürger, für Unternehmen und letztlich auch für die Verwaltung. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir in Gesetzgebungsprozessen versuchen, unterschiedlichsten Interessen gerecht zu werden. Es kommen manchmal Lösungen dabei heraus, die später im konkreten Anwendungsfall zu Problemen führen.
«Man muss sich in die Rolle des andern hineinversetzen, das gehört zur Politik.»
Politikerinnen und Politiker müssen populär sein, um gewählt zu werden. Sie müssen aber auch unpopuläre
Entscheide treffen. Das klingt nach einem Spannungsfeld.
Ich habe schon viele unpopuläre Entscheide vertreten und dabei auch erlebt, dass das in der Bevölkerung sehr wohl akzeptiert wird – und man auch wiedergewählt wird. Die Angst vor einer möglichen Nichtwahl oder einer Niederlage in einem Abstimmungskampf, das sind schlechte Ratgeber.
Die Regierung hat ein Entlastungspaket mit 87 Massnahmen beschlossen, das aufzeigt, wie der Kanton seine Finanzen stabilisieren soll. Andererseits hat sie unlängst ihre Schwerpunktplanung präsentiert. Wir haben also eine Verzichtsplanung und gleichzeitig ehrgeizige Ziele für die Zukunft. Wie geht das zusammen?
Das schliesst sich doch nicht gegenseitig aus. Ein Entlastungspaket führt dazu, dass wir uns Gedanken machen, wie wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln umgehen sollen. Das heisst, man setzt Prioritäten. Das ist in der Schwerpunktplanung auch erfolgt. Darin hat die Regierung aufgezeigt, in welchen Bereichen sie bedeutungsvolle Akzente setzen möchte. Das ist nicht gleichzusetzen mit «mehr Geld». Wir können auch mit bestehenden Mitteln Ergebnisse erzielen und uns sogar fragen: Geht es auch mit weniger?
Die Regierung hätte auch 50 Schwerpunktziele definieren können, geworden sind es nur fünf. Macht diese enge Fokussierung dann auch das Entscheiden einfacher?
Es hilft, weil man eine Grundlage hat. Die Schwerpunktplanung ist eine Fokussierung gegen aussen, aber das heisst nicht, dass anderes nicht auch gemacht wird. Die Schwerpunktplanung setzt – wie der Name sagt – Schwerpunkte und ist kein Sammelsurium an Aufgaben. Sonst müssten wir sie nicht machen.
«Ich habe schon viele unpopuläre Entscheide vertreten und dabei auch erlebt, dass das in der Bevölkerung sehr wohl akzeptiert wird.»
Gegen aussen also eine Fokussierung, gegen innen
vielleicht ein Kompass, der langfristig aufzeigt, wohin
die Reise gehen soll?
Das ist eine rollende Planung, sie findet alle vier Jahre wieder statt. Auch unter Einbezug neuer Mitglieder der Regierung. Aber die Idee ist nicht, dass die Schwerpunktplanung alle vier Jahre über den Haufen geworfen wird. Wir wollen Kontinuität schaffen.
Zum Schluss: Es gibt viele Leute, die Entscheidungsschwierigkeiten haben. Was ist dein Rat an diese Leute – als jemand, dem das eher leichtfällt?
Es ist sicher hilfreich, wenn man sich eine Aufgabe sucht, die einem selbst zusagt. Es ist doch schade, wenn jemand in eine Position gedrängt wird, die ihm nicht liegt. Deshalb gibt es in der Wirtschaft und im staatlichen Umfeld unterschiedliche spannende Aufgaben für Menschen, die genau dort ihre Kernkompetenz einbringen können. Unser Handeln ist nicht Selbstzweck, sondern es schafft Mehrwert für alle, die in diesem Kanton wohnen, arbeiten und wirtschaften. Da braucht es uns alle. Solche, die mit dem Fähnchen voranschreiten, und solche, die helfen und am selben Strick ziehen.