Das ehemalige Kurhaus Bergruh bietet einen atemberaubenden Blick über den Walensee. Touristinnen und Touristen sucht man hier jedoch vergeblich. Die «Bergruh» beherbergt unfreiwillige Gäste. Flüchtlinge, die ihre Heimat eigentlich nicht verlassen wollten – aber mussten. Einige von ihnen sind gerade im Eingangsbereich des Zentrums und grüssen beim Vorbeigehen freundlich, auch wenn das «Grüezi» beim einen oder andern noch nicht ganz so locker von den Lippen geht. Neugierig beobachten sie, wen «Chef Stephan» da empfängt. «Chef Stephan», das ist Stephan Trachsel, der Leiter des Asylzentrums. Er kommt einem mit zackigen Schritten entgegen und wechselt dabei fröhlich einige Worte mit Bewohnenden. Man spürt sofort: Die Stimmung hier ist gut. «Diese positive Grundstimmung im Zentrum hat mich zu Beginn überrascht. Die Leute sind aufgestellt – und das, obwohl sie einiges erlebt haben», sagt Trachsel.
Was zwingt Menschen zur Flucht?
Die Schicksale der Asylsuchenden sind so unterschiedlich wie die Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben. Da ist der Afrikaner, der im Gefängnis landete, weil er als Polizist nicht auf Menschen schiessen wollte. Da ist das lesbische Pärchen aus Bolivien, das aufgrund seiner Homosexualität die Heimat verliess. Da ist eine Familie, die flüchtete, weil die 12-jährigen Kinder hätten zwangsverheiratet werden sollen. Oder da ist der Militärdienst auf unbestimmte Zeit, der viele junge Männer aus Eritrea zur Flucht treibt.
Trachsel kennt die Geschichten und Schicksale der Asylsuchenden – nicht aus Akten, sondern aus persönlichen Gesprächen. «Bevor sie zu uns kommen, wissen wir praktisch nichts über unsere Neuankömmlinge. Aber im direkten Kontakt kriegt man vieles mit; entdeckt zum Beispiel verstörende Narben, die man hierzulande nicht kennt – es sind Kriegsverletzungen.» Einigen ist es ein Bedürfnis, von ihren Erlebnissen zu erzählen. Die Gelegenheit dazu erhalten sie in Gruppen oder bei öffentlichen Anlässen. «Eine sehr emotionale Angelegenheit», sagt Trachsel und hält einen Moment inne. «Bei einem Anlass mit 50 Personen, an dem Asylsuchende ihre Erfahrungen schilderten, haben am Ende alle geweint.»
«Mitleid? Das hilft niemandem etwas.»
Auch wenn seine Betroffenheit spürbar ist – allzu nahe lässt Stephan Trachsel diese Geschichten nicht an sich heran. Zum einen, um eine professionelle Distanz zu wahren. Aber auch, weil seine lange Erfahrung ihn einiges gelehrt hat. «Es gibt viele Geschichten von Flüchtlingen, ganze Bücher zum Thema. Ich nehme diese jedoch als das an, was sie sind: Geschichten. Erzählungen nehmen über die Zeit hinweg meist an Dramatik zu. Sie werden so oft wiedererzählt, dass sie irgendwann zu einer verfälschten Wahrheit werden. Alles, was sie auslösen, ist Mitleid – und das hilft niemandem etwas.»
Was abgebrüht klingt, widerspiegelt, dass Trachsel einer ist, der anpackt. Es passt auch zum Motto der «Bergruh»: «Die Flucht war gestern, jetzt beginnt die Zukunft». Dabei liegt der Fokus auf alltäglichen Dingen: «Wir wollen, dass sich die Asylsuchenden zurechtfinden und auf möglichst wenig Widerstand stossen. Oftmals sind es Details, die den Unterschied machen. Es fängt beim Grüezi sagen an, bei der Arbeitsmoral oder bei der Pünktlichkeit.» Der Alltag im Asylzentrum soll das «Leben danach» möglichst realitätsgetreu abbilden. Der Tag der Bewohnenden ist strukturiert, freie Zeit gibt es erst gegen Abend. Die Asylsuchenden gehen zur Schule, arbeiten in der Küche, im Haus, in der Werkstatt und sie absolvieren Ausbildungsprogramme. Um den hauseigenen Fitnessraum im Keller benutzen zu dürfen, braucht es einen Einführungskurs sowie eine kostenpflichtige Fitnesskarte. Wer neue Kleidung braucht, zahlt dafür einen symbolischen Beitrag. Es soll alles sein wie im richtigen Leben.
Das Tor zur Welt öffnen
Auch der Austausch mit Menschen ausserhalb des Zentrums ist wichtig. Mit Freiwilligen, die sich im Zentrum engagieren. Mit Spaziergängerinnen und Spaziergängern, die sich im hauseigenen «Café Kardamom» von Asylsuchenden mit Kaffee, Tee und süssen Köstlichkeiten aus fernen Ländern verwöhnen lassen. Trachsels Konzept kommt an. Der anfängliche Widerstand im Dorf ist überwunden, das Feedback von Gemeinde, von Anwohnerinnen und Anwohnern ist durchwegs positiv. So kann sich Stephan Trachsel ganz auf das konzentrieren, was zählt: die Asylsuchenden und das «Bergruh»-Team.
Selbst aufbrechen – das kann sich Stephan Trachsel nicht vorstellen: «Vor 30 Jahren habe ich selbst der ‹Bünzli-Schweiz› den Rücken gekehrt. Habe meine Sachen gepackt und bin zwei Jahre um die Welt gereist. Am Schluss kam ich mit dem Gedanken zurück: Ich habe es nirgendwo schöner als hier.» Dieses Gefühl möchte er an die Asylsuchenden weitergeben.
Von den rund 1’500 Menschen, die seit 2016 im Zentrum waren, sind Stephan Trachsel einzelne besonders im Kopf hängen geblieben: «Ein Mädchen kam zusammen mit ihrem Vater zu uns. Die Konstellation war schwierig. Er schlug sie und wir entschieden, die beiden zu trennen. Nachdem ihr Vater das Zentrum verlassen hatte, nahm das Mädchen das Kopftuch ab und sagte: ‹Jetzt bin ich frei. Jetzt lebe ich.›»
Der Kopf der “Bergruh”
Stephan Trachsel kennt sich aus mit Aufbrüchen. Als junger Mann reiste er rund zwei Jahre um die Welt. Als gestandener Geschäftsmann und Familienvater wechselte er 2016 nach 25 Jahren in der Privatwirtschaft in den sozialen Bereich und baute zusammen mit seinem Team das Asylzentrum «Bergruh» in Amden auf. Zurzeit leben 110 Flüchtlinge hier, davon sind 33 Kinder. Unterstützt, betreut und geschult werden sie durch ein Team aus 21 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ziel ist es, die Asylsuchenden auf einen selbständigen, eigenverantwortlichen Aufenthalt in der Schweiz oder auf die Rückkehr ins Herkunftsland vorzubereiten.