Ich gehe gerne zur Jagd. Die Jagd bringt mich mit all meinen Sinnen in eine andere Welt weit ab vom Alltag, weit weg von der zivilisierten Welt. Die Tage werden zeitlos, übliche Gedanken an Termine, Pflichten und Aufgaben verschwinden. Ich tauche für eine gewisse Zeit in meine Jagdwelt ein, in eine urtümliche Welt. All meine Gedanken konzentrieren sich nur noch auf die Jagd, das Wildtier, die Beute. Wo könnte ich heute die Gämse, das Schneehuhn oder die Rehgeiss finden? Soll ich mich an eine Waldlichtung setzen und warten? Pirsche ich dem Gamsrudel im Hochgebirge nach oder suche ich das Geröllfeld stundenlang nach Schneehühnern ab?
Ich bin kein Zufallsjäger und hoffe nicht gerne auf Glück, lieber arbeite ich daran. Vor dem Aufbrechen zur Jagd mache ich mir einen genauen Plan. Die Jagdstrategie hängt massgeblich vom Wetter, vom Wind, von der Tageszeit, vom Lebensraum ab. Das Aufsuchen oder Warten auf das Wild macht den grössten Teil der eigentlichen Jagdzeit aus. Findet man das Wild, kann es plötzlich sehr schnell gehen, oft nur Sekunden. In diesen Momenten, wo einen plötzlich oder endlich nur noch wenige Meter vom gesuchten Wildtier trennen, ist die Spannung fast unerträglich. Jetzt nur keinen Fehler machen. Keine falsche Bewegung! Es sind die herausforderndsten Momente, vor allem wenn sich die Blicke von Wildtier und Jäger treffen. Ist das Wildtier überhaupt jagdbar? Kann ich das Gewehr noch in Anschlag bringen? Ist die Flugbahn für das Geschoss frei, die Sicherheit für einen Schuss gewährleistet? Kann ich das Wildtier dort bergen oder droht es nach dem Schuss abzustürzen?
Meist endet der Spuk blitzschnell, indem das Tier schneller ist, abspringt und die Jagd fürs Erste beendet. Genau diese Ungewissheit, diese Spannung, dieses Beutemachen, diese Sekundenbruchteile Auge in Auge mit einem Wildtier auf wenige Meter zu stehen; das sind die unvergesslichen Momente auf der Jagd, nach denen man sich als Jäger immer und immer wieder sehnt.
Das Handwerk mit dem Messer
Heute war ich schneller, alles lief wie am Schnürchen. Die junge Hirschkuh bricht auf den Schuss zusammen. Geschafft! Vorsichtig klettere ich die alte Fichte hinunter und nähere mich dem verendeten Tier. Jetztbeginnt die anstrengendste Arbeit: das Aufbrechen und Bergen. Das scharfe Messer öffnet die Bauchdecke, schnell werden die inneren Organe entfernt. Die dampfende Körperwärme steigt im kalten Oktobermorgen sichtbar wie eine Rauchfahne empor. Jede Wildart riecht beim Aufbrechen anders. Am liebsten mag ich den Geruch der Gämse. Ein urtümlicher Geruch, den ich mit wilder Bergwelt im Engadin verbinde, meiner jagdlichen Heimat. Nach dem Entfernen von Milz, Leber, Pansen und Därmen wird das Zwerchfell geöffnet, um an Lunge und Herz im Brustraum zu gelangen. Dann knüpfe ich den Strick um das Hirschhaupt (Kopf) und die Vorderläufe (Beine) und ziehe das Tier eine Stunde ins Tal. Verschwitzt und körperlich am Ende reinige ich das Tier im Kühlraum von den Spuren des Transports im Wald, bevor es drei Tage später der Metzger zu wertvollem Wildfleisch aus heimischer Jagd veredelt. Aufbrechen gehört zum selbstverständlichen Handwerk, was jeder Jäger wie das Schiessengutbeherrschen muss. Wer hier einen Fehler macht, kann grössten Schaden am Wildbret anrichten. Wenn grüner Panseninhalt beim Aufbrechen das Wildtier von innenverschmutzt, kann oft das ganze Tier als Kadaver entsorgt werden, das Fleisch ist verdorben. Nicht umsonst sind die letzten Jahre die Anforderungen an Jagd und Jagende mit zahlreichen Gesetzen deutlich erhöht worden.
Waffengesetz, Treffsicherheitsnachweis, Jagdgesetz, Fleischhygienevorschriften, tierische Nebenprodukteverordnung, Tierschutzgesetz: Die Liste ist lang. Somit gelangt jeder Jäger schnell von der Wildnis in den Paragrafendschungel. Trotzdem. Wenn sich das Laub verfärbt, die Lärchen gelb werden, die Zugvögel gen Süden aufbrechen und die Tage kälter werden, überfällt mich eine innere Unruhe. Dann folgt die schönste Jahreszeit. Raus in die Natur. Auf zur Jagd!