Für Präventivmedizinerin und Impfchefin Karin Faisst geht ein turbulentes Jahr zu Ende. Der Druck war zuweilen enorm. Im Interview schildert sie, wie sie damit umging.
Frau Faisst, welche Monate waren für Sie intensiver: die jetzigen oder die Anfang Jahr?
Karin Faisst: Die ersten Monate in diesem Jahr waren sehr intensiv. Vieles war neu für uns und die Erwartungen waren hoch. In den letzten Wochen hatten wir vor allem wegen der Organisation der Impfoffensive und der Booster-Impfungen sehr viel zu tun. Gerade das Boostern stellen sich viele einfach vor, ist es aber nicht. Die Impflogik und die verschiedenen Prozesse mussten angepasst werden – und das in kürzester Zeit. Das ist anspruchsvoll.
Wie haben Sie das vergangene Impfjahr insgesamt erlebt?
Faisst: Es war ein intensives Jahr mit vielem, das fremdgesteuert war. Wir mussten oft reagieren, wobei uns nie viel Zeit dafür blieb. Trotzdem war ich immer wieder beeindruckt, wie gut die Zusammenarbeit mit den Beteiligten aller Bereiche wie Impfzentren, IT-Tool oder Impfhotline funktioniert.
Haben Sie überhaupt noch ein Privatleben?
Faisst: Ja, aber die Zeit dafür ist weniger geworden. Es hat bisher kaum ein Wochenende gegeben, an dem ich nicht gearbeitet habe. Zum Glück ist meine Familie sehr selbstständig und braucht mich nicht mehr so oft. Sicherlich gibt es auch einiges, das in dieser Zeit bei uns zu Hause liegen bleibt. Aber da muss ich darüber hinwegsehen.
Können Sie gut abschalten?
Faisst: Eigentlich schon. Im Sommer gehe ich oft schwimmen und im Winter nehme ich mir jeweils vor zu joggen. Ich jasse auch gerne mit der Familie und mit Freunden. Das ist eine erholsame Abwechslung.
Wie gehen Sie mit dem Druck um, der auf Ihnen lastet?
Faisst: Ich bin nicht allein, arbeite mit vielen kompetenten und engagierten Menschen zusammen, die einen Teil der Verantwortung übernehmen. Zudem unterstützen mich meine Vorgesetzten – Regierungsrat Bruno Damann und Generalsekretär Gildo Da Ros – sehr. Das hilft mir, da sie mir viel Vertrauen entgegenbringen. An Weihnachten letztes Jahr war der Druck wohl am grössten, als alles noch vor uns lag und viele Rahmenbedingungen unklar waren. Mittlerweile sind wir einen grossen Schritt vorwärtsgekommen und haben viele Erfahrungen gesammelt. Als ich die Stelle vor zwei Jahren angetreten habe, hätte ich nie gedacht, dass wir im Kanton einmal so viele Menschen in so kurzer Zeit impfen werden.
Gibt es Momente, in denen Ihnen alles zu viel wird?
Faisst: Bisher nicht. Zwischendurch ärgert mich mal
jemand, aber das geht wieder vorbei.
Wer oder was ärgert Sie?
Faisst: Das kann eine E-Mail sein, in der jemand unfreundlich etwas einfordert oder mir unterstellt, dass wir trödeln. Ich bekomme viele Mails und Anrufe, bemühe mich aber immer, freundlich zu bleiben. Das erwarte ich auch von meinem Gegenüber. Wir ziehen alle am selben Strick, und jeder und jede von uns versucht, das Beste zu geben.
Am Anfang riefen alle nach dem Impfstoff. Jetzt ruft ein Drittel der Bevölkerung «Freiheit». Wie gehen Sie damit um?
Faisst: Wir sind nun dort angekommen, wo unsere
tägliche Arbeit in der Prävention ist: Die Menschen
darin unterstützen, gesunde Entscheidungen zu
treffen, wie eben sich impfen zu lassen. Die Gruppe, die jetzt laut ruft, ist sehr heterogen. Viele haben ihre Haltung verfestigt. Es ist schwierig, mit ihnen zu diskutieren. Wenn jemand nicht reden möchte, bringt es nichts. Das ist auch in anderen Bereichen im Leben so.
«Ich hätte nie gedacht, dass wir so viele Menschen in so kurzer Zeit impfen werden.»
Der Aufwand für die nationale Impfkampagne ist gross, der Erfolg bescheiden. Warum lassen sich gerade in der Ostschweiz nicht mehr Menschen fürs Impfen motivieren?
Faisst: Die Schweiz und insbesondere die Ostschweiz sind gegenüber dem Impfen kritisch. Das war früher
schon so. In einem Land, in dem Freiheit eines der wichtigsten Werte und das Ressourcengefühl gross ist, hat es eine staatliche Empfehlung wie die zur Covid-Impfung sehr schwer. Mich erstaunt aber immer wieder, wie emotional das Thema «Impfen» diskutiert wird und wie stark es polarisiert. Das kann ich nicht nachvollziehen.