Vielschichtiges Erbe – faszinierende Spurensuche

Einblicke in den Hof zu Wil

Text: Michael Niedermann, dipl. Architekt FH SWB, Kantonaler Denkmalpfleger

Hof Wil KonradKellerFrauenfeld

Für die Denkmalpflege St.Gallen ist der Hof zu Wil eine kulturhistorische Schatztruhe. Über die Jahrhunderte hinweg wechselten die Hausherren und mit ihnen veränderte sich die Funktion des historischen Bauwerks. Als ehemalige Residenz der Fürstäbte ist das Gebäude bis heute eng mit der Geschichte des Klosters St.Gallen verbunden.

Der Hof zu Wil gehört zu den denkmalpflegerisch anspruchsvollsten Kulturobjekten des Kantons St. Gallen. Er begleitet die Entwicklung des Klosters St. Gallen während rund 600 Jahren seiner 1200- jährigen Geschichte. Leicht verständlich, dass der Hof dabei eine bauhistorische Fundgrube par excellence geworden ist. Eine ungeahnte Schatztruhe verschiedenster Nutzungen, Strukturen und Baustile. Freilich hat jede Nutzung ihre Spuren hinterlassen. Die Hausherren waren mehrheitlich hochgestellte Persönlichkeiten mit entsprechenden Repräsentationsbedürfnissen, wie eine kurze Chronologie zeigt.

Die Herren von Toggenburg gelten als Erbauer einer ersten Burganlage im Bereich des Hofes. Die Grundstrukturen dieser wehrhaften Anlage gehen ins 12. Jahrhundert zurück und sind noch heute im Inneren des Hofes erlebbar: der Turm, der Palas und die Umfassungsmauer des Burghofes. In dieser Form ging die Anlage um 1226 an die Abtei St. Gallen und wurde – strategisch günstig beim Zugang zum Toggenburg – zur administrativen und logistischen Aussenstelle des Klosters. Alle Bauteile wurden unter einem riesigen Dach vereint und zu einem gehörigen Lagerhaus ausgebaut. Daneben gab es eine Statthalterei zur Verwaltung.

In der Mitte des 15. Jahrhunderts entstand unter Abt Ulrich Rösch ein veritabler Klosterstaat und gleichzeitig das Bedürfnis nach einer Aussenresidenz in Wil. Denn die Oberhäupter des Klosters verbrachten zeitweise mehr Zeit in Wil als in St.Gallen. Der Hof wurde über die Jahrhunderte laufend ausgebaut und nahm immer mehr Räume des ehemaligen Lagerhauses in Anspruch: Die ursprüngliche Burganlage konnte ihren Zweck nie verleugnen und bleibt bis heute «behäbig». Dabei wurde jeweils recht unzimperlich mit dem Bestand umgegangen. Die Statik und der Zeugniswert vergangener Epochen blieben zuweilen auf der Strecke.

Die Hinterlassenschaften der verschiedenen baulichen Eingriffe sind daher äusserst komplex und im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtig. Das beginnt bei den Grundstrukturen oder den Erschliessungselementen und endet beim Verputz und den Farbschichten. Kaum ein Bauteil, das nicht über einen Vorgänger verfügt, kaum eine Farbschicht, unter welcher sich nicht eine ältere verbirgt.

Spätestens hier fängt die faszinierende denkmalpflegerische Arbeit an: die Spurensuche, das Aufnehmen einer kulturhistorischen Fährte, die Indizien, die Mutmassungen, das Zusammensetzen eines Faktenmosaiks. Aufmerksamkeit verdienen dabei immer auch funktionelle, bautechnische, finanzielle und architektonische Anforderungen.

 

Für mich ist der Hof wie ein Walfisch. Er hat über die Jahrhunderte unzählige kulturhistorische Brocken verschlungen. Nur die wenigsten speit er aus und den Rest bewahrt er in seinem Bauch. Das macht ihn höchst interessant – auch für kommende Generationen. In der aktuell geplanten dritten Etappe der Nutzbarmachung des Hofes sind verschiedene öffentlich zugängliche Funktionen vorgesehen. Das ist wichtig: Der Hof gehört zur Geschichte des Klosters St.Gallen – und damit zu uns.