Als ich losfuhr, hatte ich keine Ahnung, dass dieser Tag mein Leben radikal verändern würde. Es war früh morgens auf dem Weg ins Büro, innerlich ratterte ich durch meine ellenlange To-do-Liste für den Tag. Mitten im Gedankenkarussell plötzlich der Aufprall, danach erst mal nichts mehr.
Die Diagnose nach meinem Velounfall: Schädel-Hirn-Trauma, Ellbogenfraktur und diverse Prellungen. Ein paar Wochen den Arm in der Schiene, ein paar Wochen Ruhe für den Kopf, und dann bin ich wieder die Alte, war ich damals überzeugt. Das war vor viereinhalb Jahren.
Heute habe ich manchmal das Gefühl, ich führe das Leben einer alten Frau. Meine Energiereserven sind beschränkt, mein Gehirn wird schnell müde. Ich verbringe viel Zeit zu Hause – auch schon vor Corona.
Restaurantbesuche – zu laut. Gesellige Abende mit Freunden – kann nicht einer nach dem anderen reden? Aus dem Bücherwurm wurde eine Leserin von «20 Minuten». Wenn ich an einem Tag viel vorhabe, male ich mir vorher einen Zeitplan: Wann muss ich Pausen machen und vor allem, wo finde ich ein ruhiges Plätzchen dafür? Mittlerweile kann ich ziemlich genau einschätzen, was möglich ist und was nicht. Doch das war nicht immer so.
Eine Hirnverletzung heilt nicht, nur weil man das unbedingt will.
Lange gab es für mich nur einen Traum: Alles soll wieder so sein wie vor dem Unfall. Ich versuchte mit allen Mitteln, meinen früheren Alltag fortzusetzen. Doch die Konzentrationsstörungen blieben, die Fähigkeit, Reize zu filtern, war wie weggeblasen. Ich habe einfach nicht mehr in mein vorheriges Leben gepasst: Alles war für mich zu schnell, zu laut, zu viel. Es fühlte sich an, als würde ich Tag für Tag kopfvoran gegen eine Wand rennen.
Und mein Job als Amtstierärztin? Lange Autofahrten zu den Bauernhöfen, Gespräche in lauter Umgebung im Stall und auf dem Schlachthof, der Zeitdruck bei der Bekämpfung von Tierseuchen, nichts davon schaffte ich mehr. Drei Jahre lang habe ich gekämpft und gehofft, meine alte Stelle wieder übernehmen zu können, dabei immer wieder versucht, das Pensum zu steigern. Irgendwann musste ich einsehen, es geht nicht mehr.
Ein mehrmonatiger Aufenthalt in einer Reha-Klinik gab mir die Möglichkeit, aus dem Hamsterrad von fremden und eigenen Ansprüchen auszutreten. Mit etwas Distanz konnte ich mir erstmals vorstellen, den Traum vom «alten Leben» loszulassen und neue Träume entwickeln, die auch greifbar sind, sollte sich die Leistung meines Gehirnes nicht mehr markant verbessern.
Eine Hirnverletzung heilt nicht, nur weil man das unbedingt will.
In dieser Phase konnte ich auf die Unterstützung meiner Case Managerin beim Personalamt zählen. Karin Bon half mir nicht nur durch den administrativen Dschungel der Sozialversicherungen. Mit ihr zusammen entstand auch die Idee, nach einem Berufsfeld zu suchen, in dem ich eher Rücksicht auf meine Einschränkungen nehmen konnte. Schon immer hatte ich Freude an Sprache und am Schreiben, und so reizte es mich am meisten, einen Einblick in die Welt der Kommunikation zu erhalten.
Zu meinem Glück war das Team von Thomas Zuberbühler, Leiter der Dienststelle Kommunikation der Staatskanzlei, sofort bereit, sich auf dieses Experiment einzulassen. Im Rahmen einer einjährigen Integrationsstelle sollte ich die Möglichkeit bekommen, im Kommunikationsteam mitzuarbeiten. Gemeinsam mit allen Beteiligten wurden die Rahmenbedingungen so angepasst, dass ich mein Arbeitspotenzial voll ausschöpfen kann.
Vor dem Unfall hätte ich nie gedacht, dass ich mich so stark über meine Arbeit definiere.
Die Stunden des 40-Prozent-Pensums verteile ich über die ganze Woche, sodass genügend Zeit für Pausen bleibt. Einen Grossteil der Arbeit erledige ich von zu Hause aus. Immer montags bin ich im Büro, um die Kolleginnen und Kollegen nicht nur am Bildschirm zu sehen.
Vor dem Unfall hätte ich nie gedacht, dass ich mich so stark über meine Arbeit definiere. Aber als es plötzlich nicht mehr ging, verlor ich massiv an Selbstvertrauen. Was bin ich noch, wenn ich keine Tierärztin mehr sein kann? Hinzu kommen Existenzängste. Mit dem Pensum, das ich leisten kann, ist es unmöglich, ein Leben zu finanzieren. Es gibt auch in der reichen Schweiz kein weiches Netz von Sozialversicherungen, das einen in einer solchen Situation auffängt. Nein, es ist ein jahrelanges und kräftezehrendes juristisches Verfahren. Noch immer hat die IV nicht über meinen Antrag auf eine Teilrente entschieden.
Heute bin ich 37 Jahre alt. Die Stelle bei der Staatskanzlei bietet mir neben einem Einkommen die Chance, mich wieder auf meine Stärken zu konzentrieren, etwas beitragen zu können und Teil eines Teams zu sein – damit gibt sie mir eine Perspektive und Selbstvertrauen zurück. Auch wenn ich selbst manchmal noch damit hadere, dass ich mehr Zeit brauche als früher, die Mitfinanzierung über den Sozialkredit verringert den Druck, immer hundertprozentig funktionieren zu müssen. Und obwohl meine Beeinträchtigung im Arbeitsalltag nicht im Vordergrund steht, ist es trotzdem wichtig, dass sie ihren Platz hat. Denn sie ist nicht weg, nur weil man versucht, sie zu ignorieren. Auch nicht, wenn sie unsichtbar ist, wie in meinem Fall.
Indem sich die Türe in eine neue Berufswelt geöffnet hat, wurde einer meiner grossen Wünsche bereits erfüllt. Vor allem, seit ich im Frühling einen unbefristeten Vertrag unterschreiben durfte.
Was noch an Träumen offen bleibt? Viele, und das ist ja auch gut so. Wieder mit mehr Spontaneität durchs Leben gehen zu können und in einem Café sitzend, inmitten von Stimmengewirr und Geschirrgeklapper, ein Buch zu lesen, wären nur zwei davon.
Das Sozialprogramm des Kantons
Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, mehr Arbeitsplätze für Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen zu schaffen. Mit seinem Sozialprogramm bietet der Kanton nicht nur Unterstützung bei der Finanzierung solcher Stellen an. Das Case Management des Personalamts berät Vorgesetzte auch bei der Schaffung von alternativen Arbeitsplätzen und begleitet Arbeitnehmende und Vorgesetzte bei der Wiedereingliederung.