«Das Gefängnis ist ein Kloster auf Zeit»

Martin Vinzens nimmt den Hut

Das Interview führte Markus Wehrli, Mitarbeiter Kommunikation, Staatskanzlei
Fotos: Thomas Hary

«Das Gefängnis ist ein Kloster auf Zeit»

Martin Vinzens nimmt den Hut

Das Interview führte Markus Wehrli, Mitarbeiter Kommunikation, Staatskanzlei
Fotos: Thomas Hary

Martin Vinzens, der scheidende Direktor der Strafanstalt Saxerriet, über die Parallelen zwischen Haft und Klosterleben.

Martin Vinzens, Sie sind seit über 20 Jahren Direktor des «Saxerriet». Wie oft haben Sie sich einsperren lassen?
Nie. Aber ich habe die Insassen eingesperrt, zum Beispiel wenn wir Ausfälle beim Personal hatten. Dieser Moment ist eindrücklich, wenn man den Schlüssel dreht und das Schloss zuschnappt. Dieses Klicken bringt auf den Punkt, was im Gefängnis geschieht: Man entzieht einem Menschen die Freiheit und nimmt ihm damit ein fundamentales Menschenrecht.

Menschen die Freiheit nehmen, wenn sie eine Straftat begangen haben, ist das sinnvoll?
Es gibt keine Alternative dazu. Der Entzug von Freiheit ist eine der stärksten Strafen, die wir kennen. Aber es ist ein Entzug auf Zeit. Sinnvoll ist das, weil der Freiheitsentzug als Abschreckung dient und andere sich zweimal überlegen, ob sie wirklich gegen das Gesetz verstossen möchten. Mit dem Freiheitsentzug wird aber auch eine Straftat gesühnt. Schliesslich geht es beim Freiheitsentzug vor allem auch darum, straffällige Personen auf die richtige Bahn zu bringen und sie auf die Zeit nach dem Gefängnis vorzubereiten.

Aber ist es auch moralisch, jemandem die Freiheit zu nehmen?
Selbstverständlich. Wenn wir Leute auf die richtige Bahn bringen, dann verhindern wir künftige Opfer. Wenn Freiheitsentzug nicht moralisch vertretbar wäre, hätte ich diesen Job nie gemacht.

Sie haben Theologie studiert, waren auch seelsorgerisch tätig sind dann aber Gefängnisdirektor geworden. Was hat Sie gereizt?
Mich interessiert das Leben der Menschen. Ich bin früh in Kontakt gekommen mit Leuten, die nicht der Norm entsprechen. Mich reizt es, ihre Geschichte zu verstehen: Weshalb führen sie ihr Leben so und nicht anders? Während meines Theologiestudiums lernte ich die Gefängnisseelsorge und damit auch Gefängnisinsassen kennen. Der Lebensweg dieser Menschen und ihre Perspektiven interessierten mich bereits damals.

Haben Sie als Direktor enge Beziehungen zu den Insassen?
Ich kenne sie selbstverständlich persönlich. Ich führe regelmässig Gespräche mit ihnen, um mir ein Bild machen zu können und zu wissen, wo sie stehen. Es geht dabei um eine professionelle Mischung von Nähe und Distanz. Ich gehe aber immer offen auf die Insassen zu und versuche klar und transparent zu sein.

Thema des Pfalzbriefes ist «Reduktion – Die Kunst des Weglassens». Das Leben im Gefängnis erinnert an das Leben im Kloster. Täuscht der Eindruck?
Überhaupt nicht. Hier wie dort konzentriert sich das Leben auf einen einzigen Ort – leben, arbeiten, schlafen, Tag für Tag, Woche für Woche. Das ist tatsächlich wie in einem Kloster, es ist eine totale Reduktion. Wenn ein Insasse hier ankommt, dann gibt er zuerst einmal alles ab. Sein Alltag ist geregelt. Wann er telefonieren darf, ist geregelt, wann er nach draussen darf, ist geregelt, der gesamte Tagesablauf ist vorgegeben. Es gibt kaum einen Ort, wo der Mensch so auf sich zurückgeworfen ist wie hier. Das Gefängnis ist ein Kloster auf Zeit.

Eine Form der Askese?
Ja, und wenn man die Insassen begleitet und betreut, dann kann das sehr heilsam sein. Ich habe hier Zeit, mir mein Leben zu überlegen. Der Strafvollzug kann so zu einem Wendepunkt werden.

Sie glauben daran, dass jeder Mensch eine zweite Chance haben soll?
Bei Schwerstverbrechern ist das sehr schwierig. Aber hier im «Saxerriet», im offenen Strafvollzug, ist die zweite Chance unsere tägliche Arbeit. Unsere Insassen haben eine Perspektive. An dieser Perspektive arbeiten wir. Wir bereiten diese Menschen auf die Entlassung und auf ihre Freiheit vor, damit sie sich in die Gesellschaft einfügen und ein geregeltes Leben führen können. Das Ziel ist Resozialisierung. Das ist nichts anderes als eine zweite Chance haben.

Wurden Sie nie enttäuscht?
Natürlich. Es gibt immer wieder Rückschläge. Zu Beginn war bei mir sicher ein theologisches Vorschussvertrauen im Spiel. Das habe ich abgelegt, ich wurde angelogen und bin realistischer geworden. Und manchmal entlassen wir Insassen in die Freiheit, bei denen wir wirklich ein total gutes Gefühl haben. Aber dann sind sie keine zwei Monate draussen und sie begehen eine Straftat.

Was hat der Gefängnisalltag Sie über das Leben gelehrt?
Ich habe gelernt, wirklich ohne Vorurteil auf Menschen zuzugehen und zuzuhören. Und bei Rückschlägen wieder neu anzufangen und nach neuen Wegen zu suchen.

Im Mai 2021 gehen Sie in die Pension. Übernehmen Sie dann eine Pfarrei?
Nein, dieses Kapitel ist abgeschlossen. Das heisst nicht, dass ich mich dem Thema «Spiritualität» verschliesse. Ein Engagement in der Amtskirche kommt aber nicht infrage.