«Ich kann die Welt nicht allein retten»

Olivia Meier, Kommunikation Staatskanzlei
Thomas Hary

«Ich kann die Welt nicht allein retten»

Olivia Meier, Kommunikation Staatskanzlei
Thomas Hary
Erst Corona, dann Trockenheit, Ukraine-Krieg und Energiemangel. Eine Krise folgt der nächsten. Mittendrin der Kantonale Führungsstab, der für die Krisenbewältigung zuständig ist. Wir haben dessen Leiter Jörg Köhler gefragt, wie es ist, im permanenten Krisenmodus zu arbeiten, und was dies in der Verwaltung und bei ihm persönlich auslöst.

Jörg Köhler, seit mehreren Jahren arbeiten Sie quasi in einer Dauerkrise. Dachten Sie nie ans Aufhören?

Nein, nie. Ich segle lieber durch eine stürmische See als durch stille Gewässer. Krisen haben un­glaublich viele Facetten, fordern uns fachlich sowie in wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Fragen heraus. Das macht die Arbeit in Krisenzeiten zwar anstrengend, aber auch hochspannend. Da fällt es mir deutlich schwerer, die Motivation fürs Kontrollieren von Rechnungen oder für ein E-Learning zur Infor­mationssicherheit zu finden. (lacht)

Corona, Ukraine-Krieg oder Mangellage: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Krisen?

Inhaltlich unterscheiden sich Krisen stark voneinan­der. Aber alle durchlaufen die gleichen Phasen. Eine Chaos-Phase gehört zum Beispiel zu jeder Krise dazu, bis irgendwann die Erkenntnis greift: Jetzt müssen wir das grosse Ganze anschauen. Dann zerlegen wir den komplexen Happen in verdaubare Bissen. Steht fest, wer für die einzelnen Bissen zuständig ist, läuft es. Dann kann man auf Pläne zurückgreifen, Arbeiten nach einer vorgegebenen Struktur verteilen und eine gewisse Überschaubarkeit ins Krisenmanagement bringen.

Wie klappt denn der Wechsel von diesen Plänen zur Praxis?

Ein Plan wird in der Praxis niemals 1:1 umsetzbar sein. Das heisst aber nicht, dass man sich nicht vorbereiten soll. Meist braucht es nur wenige Anpas­sungen, damit ein Plan in der Realität funktioniert. Die Corona-Pandemie war leider ein Paradebeispiel dafür, wie ein Wechsel von der Theorie zur Praxis nicht laufen sollte. 2014 gab es eine schweizweite Übung zum Thema Pandemie. Der eigentlich gute Pandemieplan, in den die Erkenntnisse der Übung mündeten, wurde zu Beginn der Corona-Pandemie jedoch nicht einmal hervorgeholt. Grundsätzlich gilt: Jeder Plan ist nur so lange gut, bis er zum ersten Mal mit der Realität konfrontiert wird.

 

Das birgt viel Frustrationspotenzial. Wie gehen Sie damit um?

Geholfen hat mir vor allem der Austausch mit meiner Partnerin, aber auch mit Mitgliedern des KFS oder Mitarbeitenden in meinem Amt. So verteilt sich die Last einer Krise auf mehrere Schultern. In Corona-Zeiten haben wir uns zum Beispiel regelmässig mit Regierungspräsident Fredy Fässler, Regierungsrat Bruno Damann, der damaligen Kantonsärztin Danuta Zemp sowie meinem Stabschef zum Pizzaessen getrof­fen, damit wir uns austauschen und den Weg vorspu­ren konnten. Ausserdem musste ich lernen loszu­lassen. Frust, Ärger oder Wut lasse ich zwar zu – aber nur noch einen Tag lang. Am nächsten Tag schaue ich wieder nach vorne und suche nach Lösungen.

Als Leiter des KFS weisen Sie ständig auf die verletz­lichen Seiten des Kantons hin. Eine unangenehme Aufgabe?

Ich profitiere dabei zum Glück vom Vertrauen, das die Regierung mir und dem KFS entgegenbringt. Wenn ich etwas sage, wird das sehr ernst genommen. Trotz­dem zwingt mich meine Rolle zu viel Selbstreflexion: Haben wir wirklich das Wesentliche erfasst? Konnte ich rüberbringen, was ich wollte? Dabei musste ich auch lernen anzunehmen, dass nicht alle empfohlenen Massnahmen umgesetzt werden können, sondern die Regierung und die Departemente Prioritäten setzen müssen. Ich bin nicht allmächtig, kann die Welt nicht allein retten. Ich möchte aber dazu beitragen, dass wir vorhandenes Wissen auch in Krisenzeiten anwenden und unsere Augen nicht vor Schwächen verschliessen.

Krisen sind belastend und fordern uns als Angestellte des Kantons stark heraus. Was sind Ihre Tipps an Kolle­ginnen und Kollegen?

Den persönlichen Ressourcen Sorge zu tragen, ist zentral: auf die Gesundheit achten, Pausen einhalten. Das ist enorm wichtig für das Durchhaltevermögen. Mich zwingt meine Hündin Aska dazu. Dreimal am Tag nehme ich mir Zeit für einen Spaziergang mit ihr, bei dem ich abschalten und mich erholen kann. In der Nacht oder am Wochenende arbeite ich nur, wenn es absolut zwingend ist. Wertvoll ist auch der Austausch mit dem nahen Umfeld. Eigene Ansichten mit Per­sonen zu spiegeln, die nicht im gleichen Hamsterrad stecken, kann enorm bereichernd sein, Dinge relati­vieren und neue Erkenntnisse bringen.

Haben die Krisen auch bei Ihnen verletzliche Seiten offengelegt?

Ein körperliches Symptom der Belastung sind Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, die ich seit mehr als einem Monat ständig verspüre. Viel mehr Spuren hinterlassen haben aber persönliche Begeg­nungen. Einzelschicksale machen mich sehr betroffen und haben mir auch schon schlaflose Nächte bereitet. Zum Beispiel, als ich für den Tod einer Grossmutter verantwortlich gemacht wurde, weil wir während gewisser Phasen der Corona-Pandemie eher zurück­haltende Massnahmen einführten. Oder wenn Flüchtlinge, deren Häuser bombardiert wurden, ihre Erlebnisse schildern.

Pausen sind enorm wichtig für das Durchhaltevermögen.

Was hilft in solchen Momenten?

Ich lasse Trauer und Wut für eine gewisse Zeit zu. Ich darf wütend sein auf Putin oder auf die Unge­rechtigkeit der Welt. Ich darf mit Flüchtlingen um ihre Familien trauern. Aber nach einer Viertelstunde muss ich das wieder ablegen. Denn so furchtbar diese Einzelschicksale sind: Fokussiert man zu sehr auf sie, kann man das Gesamtproblem nicht lösen. Das war ein intensiver Lernprozess. Mir hilft beispielsweise Galgenhumor, um die nötige Distanz zu wahren, auch wenn das nicht immer von allen verstanden wird. Viel abschauen kann ich mir von meiner Tochter Angela, die eine geistige Beeinträchtigung hat. Sie findet jeweils: «Ja, das ist sehr schlimm. Aber wann gehen wir das nächste Mal Ski fahren?»

Wie verändert sich Ihr Arbeitsalltag, wenn sich eine Krise ihrem Ende zuneigt?

Am Schluss haben Krisen oft etwas ermüdend Repetitives an sich: Die Corona-Pandemie war bei­spielsweise zuletzt geprägt durch die wöchentlichen kurzfristigen Anpassungen und das ständige sich Auseinandersetzen mit Zahlen: Fallzahlen, Impf­statistik, Auslastung der Spitäler und so weiter. Ist eine Krise überstanden, fällt es mir meist schwer, den Berg an Arbeiten mit niedrigerer Priorität an­zugehen, der sich während einer Krise anstaut. Das «Daily Business» verliert durch die Krisenarbeit an Bedeutung. Es ist halt attraktiver, die grossen Geschichten anzugehen als Spesenabrechnungen zu prüfen. In der Zusammenarbeit mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern finde ich aber schnell wieder in den Arbeitsalltag zurück.

Nach all den Krisen: Können Sie noch optimistisch in die Zukunft schauen?

Ja, sehr. Ich habe keine Angst vor der nächsten Krise, weil ich weiss, wozu wir fähig sind. Alle Risiken wer­den wir trotz ständigem Monitoring durch den KFS nie abdecken können. Ich versuche, diese Verletzlich­keit als Stärke zu sehen. Sie ist ein Zeichen für unsere Offenheit, für unseren Willen zur Weiterentwicklung. Zu spüren, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Amtes sowie der gesamten Verwaltung ihr Bestes geben und sich einsetzen, damit eine Krise er­folgreich bewältigt werden kann, gibt mir unglaublich viel Energie und Motivation. Ein Highlight war zum Beispiel die Sammlung von Hilfsgütern für die Ukrai­ne zu Beginn des Krieges, bei der Ausserordentliches geleistet wurde. Die greif- und sichtbare Solidarität der Bevölkerung war nach der lähmenden Corona-Zeit ein Energieschub.

Haben Krisen also auch ihre guten Seiten?

In gewisser Weise, ja. Wir sind an den Krisen der letz­ten Jahre enorm gewachsen. Krisen sind Chancen für einen Wandel. Die Corona-Pandemie hat die prekäre Situation im Gesundheitswesen in den öffentlichen Diskurs gerückt und den Schweizer Bevölkerungs­schutz enorm weitergebracht, der Ukraine-Krieg hat Europa näher zusammenstehen lassen, der drohende Energiemangel bringt die Diskussion rund um den Schutz kritischer Infrastrukturen auf eine neue Ebene. Diese aus der Verletzlichkeit entstandenen Dynami­ken gilt es zu nutzen.

Person

Jörg Köhler ist Leiter des Amtes für Militär und Zivilschutz sowie Chef des Kantonalen Führungs­stabs. Köhler ist Vater von zwei Töchtern, er lebt in Schwarzenbach.