...

Ganz oben angekommen

Nach 14 Jahren als Kantonsrichter geht Patrick Guidon ans Bundesgericht in Lausanne. Ein Gespräch über 2000 Urteile, über Gerechtigkeit und Mitgefühl.

Interview Markus Wehrli | Bild Thomas Hary

Ganz oben angekommen

Nach 14 Jahren als Kantonsrichter geht Patrick Guidon ans Bundesgericht in Lausanne. Ein Gespräch über 2000 Urteile, über Gerechtigkeit und Mitgefühl.

Interview Markus Wehrli | Bild Thomas Hary

Patrick, ab Januar arbeitest du als Bundesrichter, höher kann ein Richter nicht steigen. Bist du ein Karrieremensch?
Nein. Das Bundesgericht ist zwar die oberste Instanz. Ich finde die richterliche Tätigkeit aber auf jeder Stufe herausfordernd und interessant. Insofern hatte ich auch nie ein bestimmtes Karriereziel. Mir war einfach immer wichtig, jeweils dort mein Bestes zu geben, wo ich gerade war.

Warum wurdest du Richter?
Mir gefällt die Aufgabe des Richters, neutral und unabhängig entscheiden zu dürfen. Am Strafrecht finde ich spannend, dass man Einblick in viele Lebensbereiche hat und unterschiedlichste Fälle beurteilt, von Verkehrsdelikten bis zu Gewaltverbrechen.

Hast du einen besonderen Gerechtigkeitssinn?
Ja, ich denke schon. Ungerechtigkeit hat mich bereits als junger Mensch gestört. Ich habe das von meinen Eltern mitbekommen. Heute versuche
ich, mit meiner Arbeit ein kleines bisschen zum Rechtsfrieden beizutragen.

Mir ist es wichtig, dass die Beteiligten nach dem Entscheid sagen können: Ich wurde ernst genommen und fair behandelt.

Wie viele Urteile hast du gefällt?
Deutlich mehr als 2000, wobei ich jeweils nicht allein, sondern als Teil eines Dreiergremiums entscheide.

Waren die Urteile immer gerecht?
Gerechtigkeit ist ein grosses Wort. Natürlich strebe ich als Richter im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben ein möglichst gerechtes Urteil an. Ob die am Verfahren beteiligten Personen dieses dann auch tatsächlich als gerecht empfinden, ist eine andere Frage. Mir persönlich ist es wichtig, dass die Beteiligten nach dem Entscheid sagen können: Ich wurde ernst genommen und fair behandelt. Das bedingt, dass man sich als Richter die Zeit nimmt, Beschuldigte, Opfer und Zeugen wirklich anzuhören. Das trägt in meinen Augen entscheidend zur Akzeptanz eines Urteils bei.

Du verurteilst Menschen. Haben sie dir auch leidgetan?
Manchmal ja. Als Richter sollte man sich gegenüber allen Beteiligten eine gewisse Empathie bewahren. Zugleich darf man sich mit den teils tragischen Schicksalen nicht zu stark identifizieren. Sonst verliert man die Objektivität. Als Mensch, nicht als Richter, haben mir einige Personen leidgetan. Ich wüsste nicht, wie mein eigener Lebensweg verlaufen wäre, hätte ich nicht so liebevolle Eltern gehabt.

Die Landesregionen der Schweiz haben verschiedene Rechtstraditionen. Die angemessene Vertretung der Regionen ist deshalb wichtig. 

Zu weniger schwierigen Dingen. Du bist Fahnenschwinger. Wie kommt das?
Ich arbeitete kurze Zeit als Vertreter einer Nichtregierungsorganisation bei der UNO in New York. Mir fiel auf, dass dort alle ihre Landestraditionen pflegten. Das wollte ich auch. Als ich in die Schweiz zurückkehrte, trat ich den Thurgauer Fahnenschwingern bei.

Du bist auch Mitglied der SVP. Wie weit spielen deine Weltanschauung und deine SVP-Mitgliedschaft eine Rolle bei deiner Arbeit als Richter?
Wie alle Richter bin ich allein dem Recht verpflichtet. Zugleich sind auch Richter nur Menschen. Als solche bringen sie ihren ganz persönlichen Hintergrund mit. Dazu gehören etwa Herkunft, Familie, Alter, Geschlecht oder eben die politische Grundeinstellung. Richter müssen ein genaues Bewusstsein für alle diese Prägungen haben, damit diese die objektive Beurteilung eines Falles nicht in unzulässiger Weise beeinflussen.

Du gehst als St.Galler ans Bundesgericht. Spielt eine regionale Vertretung eine Rolle?
Ich finde schon. Die verschiedenen Landesregionen der Schweiz haben auch verschiedenen Rechtstraditionen. Man kann solche regionalen Unterschiede teilweise auch statistisch nachweisen. Deshalb ist die angemessene Vertretung aller Regionen wichtig. 

Wenn man von der Bundesversammlung gewählt wird, läuft es einem da kalt den Rücken runter?
Ja, das war tatsächlich ein sehr eindrücklicher Moment. Ich verspürte aber auch sofort grosse Demut und Respekt vor der verantwortungsvollen Aufgabe.

Neben dir auf der Zuschauertribüne im Nationalratssaal sass dein Vater. Wieso gerade er?
Eigentlich wollte ich meine Eltern mitnehmen, denen ich viel zu verdanken habe. Meine Mutter ist aber kurz vorher mit nur gerade 69 Jahren an den Folgen einer Demenz verstorben. Mein Vater war sehr traurig, dass sie nicht mit dabei sein konnte. Es war emotional herausfordernd, Trost zu spenden und mich zugleich über die Wahl zu freuen. Nachher haben wir zusammen im Gedenken an meine Mutter
angestossen. Das war sehr schön.